Show­case des Dig­i­tal­en Pro­duk­t­pass­es für ein Pol­ster­mö­bel (links) sowie eine Küche

DIGITALER PRODUKTPASS: Das kommt auf die Branche zu
Breite Vernetzung statt Alleingänge

Der Dig­i­tale Pro­duk­t­pass ist Teil mehrerer neuer Verord­nun­gen der Europäis­chen Kom­mis­sion zur Erfas­sung und Weit­er­gabe von Dat­en über Pro­duk­te und ihre Liefer­ket­ten. Die Entwick­lung des Pass­es stellt die Möbe­lin­dus­trie und ihre Zulief­er­er vor einige Her­aus­forderun­gen. Welche das sind und wie diese gemeis­tert wer­den kön­nen, erläutert Dr. Olaf Plümer, Geschäfts­führer des Dat­en Comp­tence Cen­ters und Leit­er Dig­i­tal­isierung der Ver­bände der deutschen Möbe­lin­dus­trie, in einem Gastbeitrag.

Von Dr. Olaf Plümer

Eines der größten Vorhaben der let­zten EU-Kom­mis­sion war der so genan­nte Green Deal. Die angestrebten CO2-Einsparun­gen liegen hier­bei auf ver­schiede­nen Ebe­nen. Eine davon bildet die Kreis­laufwirtschaft. Kerngedanke ist, dass Pro­duk­te oder zumin­d­est Mate­ri­alien wiederver­wen­det wer­den soll­ten. Per­spek­tivisch gilt dies für alle materiellen Güter, die in der EU in den Verkehr gebracht oder in Betrieb genom­men wer­den — ein­schließlich der Bauteile und Zwischenprodukte.

Dies erfol­gt in unter­schiedlichen Ge
schwindigkeit­en. Laut der Verord­nung Ecodesign for Sus­tain­able Prod­ucts Reg­u­la­tion (ESPR) sollte „für den ersten Arbeit­s­plan die Kom­mis­sion [ … ] Möbel, ein­schließlich Matratzen [ … ], als vor­rangig ein­stufen.” Dies ist sich­er auch dem Sachver­halt geschuldet, dass Möbel und Matratzen einen nicht uner­he­blichen Anteil am so genan­nten Sper­rmüll haben. Allerd­ings sind Möbel auf­grund ihrer Bauteil­struk­tur kom­plex­er als beispiel­sweise Tex­tilien, die eben­falls von Beginn an betroffen sind. Bezo­gen auf unsere Branche ist das eine Her­aus­forderung für die Kon­struk­tion, aber auch für die Fer­ti­gung von Möbeln.

Ob der Green Deal durch die neue EU-Kom­mis­sion abgeschwächt wird, zeigt sich in den näch­sten Monat­en. Es ist aber deut­lich gewor­den, dass die ESPR selb­st nicht in Frage gestellt wird. Möglicher­weise kön­nen die Aus­führungs­bes­tim­mungen zurück­hal­tender aus­fall­en, als ursprünglich geplant. Auch der genaue Zeit­plan kann von uns derzeit nur geschätzt wer­den. Der Entwurf des delegierten Recht­sak­ts sollte spätestens neun Monate nach Inkraft­treten der ESPR vor­liegen. Mit Über­gangs­fris­ten gehen wir von ein­er Gültigkeit im Jahr 2028 aus.

Meine Kol­le­gen Jan Kurth und Hein­er Strack vom Ver­band der Deutschen Möbe­lin­dus­trie (VDM) stim­men sich dies­bezüglich auf europäis­ch­er Ebene in den Gremien der EFIC ab. Die Euro­pean Fur­ni­ture Indus­tries Con­fed­er­a­tion repräsen­tiert mehr als 70 Prozent des Gesam­tum­satzes unser­er Branche. Die Mit­glieder kom­men aus 18 nationalen Ver­bän­den, einem einzel­nen Unternehmen und mehreren Clustern.

Die notwendi­gen Infor­ma­tio­nen für die Wieder- bzw. Weit­er­ver­wen­dung, die Demon­tage oder auch die stof­fliche Ver­w­er­tung sind umset­zbar, indem jedem Möbel­stück ein Pro­duk­t­pass beige­fügt wird — selb­stver­ständlich in dig­i­taler Form. Der Dig­i­tale Pro­duk­t­pass (DPP) muss eine Vielzahl an unter­schiedlichen Infor­ma­tio­nen ver­ar­beit­en. Daher beschäfti­gen sich meine Kol­le­gin Ani­ka Degen­hard und ich als Vertreter des Dat­en Com­pe­tence Cen­ters (DCC) inten­siv mit diesem Thema.

Ani­ka Degen­hard ist Lei­t­erin Stan­dar­d­isierung beim Dat­en Com­pe­tence Cen­ter. Sie beschäftigt sich inten­siv mit dem Dig­i­tal­en Produktpass

Kurios ist, dass zwar Möbel als zusam­menge­set­zte Pro­duk­te im ersten Auf­schlag betrof­fen sind, die Bauteile wie beispiel­sweise Beschläge aber nicht. Das ist sicher­lich der gravierend­ste Unter­schied zu Tex­tilien. Somit sind die Pro­duzen­ten auf die Mith­il­fe ihrer Zulieferindus­trien angewiesen. Let­z­tendlich müssen für jedes Zukaufteil und für alle Fer­ti­gungs­ma­te­ri­alien entsprechende Pässe erstellt und beige­fügt wer­den. Daraus wird kaskadenar­tig der DPP für das fer­tige Möbel erzeugt. Derzeit sprechen wir mit allen rel­e­van­ten Liefer­an­ten­grup­pen über das Thema.

Die Umset­zung ist kom­plex, denn es wer­den Datenökosys­teme bzw. Daten­con­tain­er benötigt. Der offizielle Fach­be­griff ist Ver­wal­tungss­chale (Asset Admin­is­tra­tion Shell/AAS). Wir ken­nen bere­its vielfältige Konzepte für Ver­wal­tungss­chalen und dig­i­tale Pro­duk­t­pässe, die genauen Aus­führungs­bes­tim­mungen der EU lassen aber noch auf sich warten. Ein Par­a­dig­ma bei vie­len Geset­zesvorhaben der EU ist der Ver­brauch­er­schutz, was wir grund­sät­zlich begrüßen. Für den DPP gilt daher, dass er vor der Kaufentschei­dung zur Ver­fü­gung ste­hen muss. Bei Lager­ware ist dies unkri­tisch, bei vari­anten­re­ichen, kom­mis­sion­s­ge­fer­tigten Pro­duk­ten wie Ein­bauküchen und Sit­z­land­schaften ist es eine Her­aus­forderung — eben­so wie die zwin­gend vorgeschriebene ein­deutige Iden­ti­fizierung. Die Pla­nung­spro­gramme und Kon­fig­u­ra­toren des Han­dels haben hier noch eine gewaltige Auf­gabe vor sich — und die DCC-Gremien ebenfalls.

Ganz neu aufgenom­men in den let­zten Entwurf der ESPR wurde ein Web­por­tal für die Ver­gle­ich­barkeit von Pro­duk­ten. Glück­licher­weise liegt dies nicht in der Ver­ant­wor­tung der Pro­duzen­ten. Wie bere­its dargestellt, sind die Her­aus­forderun­gen, die die europäis­che Ökode­sign-Verord­nung für die Dig­i­tal­isierung mit sich bringt, nur in und mit der gesamten Wertschöp­fungs­kette zu lösen. Daher fand im Feb­ru­ar in der Möbelfach­schule in Köln die kon­sti­tu­ierende Sitzung des von uns gegrün­de­ten neuen Kon­sor­tiums „Furniture‑X” statt. Furniture‑X bere­it­et die einzel­nen Akteure aus Indus­trie und Han­del auf eine prax­is­gerechte und flächen­deck­ende Ein­führung des Dig­i­tal­en Pro­duk­t­pass­es in der Möbel- und Ein­rich­tungs­branche vor.

Da ins­ge­samt rund 16.000 Unternehmen in Deutsch­land mit der Ein­rich­tungs­branche assozi­iert sind, ist es von großer Bedeu­tung, dass wir zuerst die wichtig­sten Branchenor­gan­i­sa­tio­nen zusam­men­brin­gen. Furniture‑X soll Vorar­beit leis­ten, um für die Möbel­branche die Rah­menbe­din­gun­gen festzule­gen. Gle­ichzeit­ig soll es Geset­ze­sen­twürfe, Aus­führungs­bes­tim­mungen, Nor­men und Konzepte sicht­en und auf Rel­e­vanz prüfen.

Das Kon­sor­tium set­zt sich zusam­men aus dem Ver­band der Deutschen Möbe­lin­dus­trie (VDM), dem Dat­en Com­pe­tence Cen­ter (DCC), das als Stan­dar­d­isierung­sor­gan­i­sa­tion für For­mate und Prozesse den Date­naus­tausch verbessert, dem Han­delsver­band Wohnen und Büro (BVDM), dem Mit­tel­standsver­bund (ZGV), „Mor­phe“ als treibende Kraft für die Etablierung der ECLASS-Nor­men in der Inte­ri­or-Branche sowie Inte­grat­ed Worlds als Betreiber der zen­tralen Date­naus­tausch­plat­tform IWO­furn. Die Zusam­me­nar­beit mit dem Wup­per­tal Insti­tut und dem FIR (Forschungsin­sti­tut für Ratio­nal­isierung) der Uni­ver­sität Aachen stellt sich­er, dass branchenüber­greifende Ini­tia­tiv­en berück­sichtigt und mögliche Syn­ergien gehoben wer­den können.

Der VDM repräsen­tiert als Spitzen­ver­band mit etwa 450 Her­stellern alle Sek­toren der  Branche auf nationaler und inter­na­tionaler Ebene. Der BVDM ver­tritt die Inter­essen von rund 8.500 Unternehmen des Fach­han­dels der Branche. Der ZGV ste­ht für die gewerblichen Ver­bund­grup­pen: Alle rel­e­van­ten Einkaufsver­bände der Branche koor­dinieren sich dort in der Fach­gruppe Möbel & Küche.

Die Akteure des Kon­sor­tiums haben damit die Arbeit schon weit vor der Bekan­nt­gabe des Del­e­gat­ed Act seit­ens der EU-Kom­mis­sion aufgenom­men. Neben dem branchen­in­ter­nen Wis­sensauf­bau ist die Ver­net­zung mit ähn­lich geart­eten Ini­tia­tiv­en ander­er Branchen (Manufacturing‑X) sowie die Sen­si­bil­isierung von Branchen­teil­nehmern für die The­matik von hoher Bedeutung.

Der Dig­i­tale Pro­duk­t­pass wird auch in dem europäis­chen Nom­mungs­gremi­um der CEN/CENELEC behan­delt. Meine aktive Mitar­beit im nationalen Spiegel­gremien des DIN (Deutsches Insti­tut für Nor­mung) sowie der DKE (Deutsche Kom­mis­sion Elek­trotech­nik) flankiert unsere Arbeit­en eben­so wie die Ein­bindung im Manufacturing‑X Steer­ing Com­mit­tee (SC4MX).

Wir pla­nen drei Ebe­nen der Par­tizipa­tion im Kon­sor­tium. Neben den derzeit aktiv­en Gremien wurde im Juni ein Experten­rat ein­berufen. Dieser ist auch bewusst mit branchen­fer­nen Per­so­n­en beset­zt. Als Drittes öffnet sich das Kon­sor­tium allen inter­essierten Unternehmen. Diese wer­den in einem Unter­stützerkreis zusam­menge­fasst. Das Ange­bot zur Par­tizipa­tion richtet sich hier­bei nicht nur an Her­steller und Vor­liefer­an­ten, son­dern expliz­it auch an Soft­ware-Hauser und Daten­di­en­stleis­ter. Ohne deren Exper­tise und Pro­gramme kön­nen wir Daten­stan­dards nicht umsetzen.

Was wis­sen wir derzeit struk­turell über den dig­i­tal­en Pro­duk­t­pass? Es gel­ten einige grundle­gende Bedin­gun­gen: Der DPP muss ein­deutig mit einem Pro­dukt verknüpft sein. Ein Daten­träger mit einem ein­deuti­gen Iden­ti­fika­tor muss auf dem Pro­dukt, der Ver­pack­ung oder beglei­t­en­der Doku­men­ta­tion vorhan­den sein. Es wird unter­schiedliche Zugangsrechte zu den Infor­ma­tio­nen im DPP geben.

Es bedarf unter­schiedlich­er „Schreib“-Berechtigungen, um Infor­ma­tio­nen in einen DPP einzufü­gen, zu ändern oder zu erstellen.  Grund­sät­zlich sind drei Gran­u­lar­ität­sebe­nen möglich: Mod­ell, Charge oder Artikel. Es wer­den vier ein­deutige Iden­ti­fika­toren für Pro­dukt, Betreiber, Ein­rich­tung und Reg­istrierung gefordert.

Das CEN-CLC JTC24 hat von der EU einen Stan­dar­d­isierungsauf­trag für das DPP-Sys­tem erhal­ten. Das nationale Gemein­schafts­gremi­um agiert als Spiegel­gremi­um und bildet die deutsche Mei­n­ung. Das Joint Tech­ni­cal Com­mit­tee (JTC24) beschäftigt sich unter anderem mit Daten­spe­icherung, ‑aus­tausch und der Per­sis­tenz, den Daten­trägern und Beze­ich­n­ern, der Inter­op­er­abil­ität und DPP-Sys­temar­chitek­tur. Dies ist sehr viel Datentechnik.

Jed­er Tage­sor­d­nungspunkt des europäis­chen Gremi­ums wird besprochen und eine gemein­same deutsche Posi­tion beschlossen. Diese wird in soge­nan­nten Del­e­gate Instruc­tions fest­ge­hal­ten und dient dem Del­e­ga­tion­ssprech­er zur Ein­bringung der deutschen Mei­n­ung während des europäis­chen Meetings.

CEN-CLC wiederum ver­ant­wortet die Kom­mu­nika­tion zu anderen inter­na­tionalen Stan­dar­d­isierung­sor­gan­i­sa­tio­nen beispiel­sweise zu den USA, zu Korea, Japan und Chi­na. Klingt kom­plex — ist es auch. Aber beim Pro­duk­t­pass müssen wir europäisch bzw. inter­na­tion­al denken. Nationale oder branchen­spez­i­fis­che Alle­ingänge funk­tion­ieren nicht.

Aber was ist mit den Inhal­ten? Die Pass­dat­en liegen außer­halb des Gel­tungs­bere­ichs von JTC24 und sind auch poli­tisch induziert. Der CO2-Fußab­druck (Prod­uct Car­bon Foot­print / PCF) wird mit hoher Wahrschein­lichkeit dazu gehören. Die Details sind span­nend: von wo bis wo wird gerech­net? Ver­mut­lich eher Cra­dle To Gate als Cra­dle To Grave? Und welch­es Gate ist gemeint das des Her­stellers oder das des Händlers?

Der großte Teil der Inhalte liegt uns heute schon in dem inter­na­tionalen Klas­si­fizierungssys­tem von ECLASS vor. Ani­ka Degen­hard leit­et hier dankenswert­er­weise die Fach­gruppe Möbel und Wohnein­rich­tun­gen. Wir wis­sen zwar nicht, wieviel der ECLASS-Merk­male über­nom­men wer­den — nach unser­er Ein­schätzung ist aber jed­er Her­steller, der seine Pro­duk­te heute schon nach diesem Sys­tem klas­si­fiziert, auf einem guten Weg.

Um unser­er Branche einen Ein­druck von der Struk­tur zu geben, plant Furniture‑X zwei Show­cas­es. Ani­ka Degen­hard und Ste­fan Willms wer­den jew­eils für einen Küchen­schrank und einen Ses­sel einen DPP erstellen. Diese sind mod­u­lar entsprechend der Baukas­ten­sys­tem­atik in der Struk­tur von DPP 4.0 der Indus­tri­al Dig­i­tal Twin Asso­ci­a­tion (IDTA) aufge­baut. Inhaltlich ori­en­tieren wir uns an den ECLASS-Merk­malen. Die Show­cas­es wer­den erst­ma­lig auf dem IWO­furn-Sum­mit im Novem­ber vorgestellt und sukzes­sive verfeinert.

Das Set-up ste­ht nun auf einem sicheren Fun­da­ment, alle Akteure arbeit­en daran, schnell Fortschritte auf dem Weg in die Kreis­laufwirtschaft zu machen. Trotz oder ger­ade wegen der Kom­plex­ität von Möbeln sind wir bestrebt, eine Vor­re­it­er­rolle in der Kon­sumgüter­branche einzunehmen. Wer sich über den Arbeits­stand des Kon­sor­tiums Furniture‑X informieren will und sich ein Bild von den geset­zlichen Vor­gaben machen möchte, find­et die laufend aktu­al­isierte Berichter­stat­tung über Furniture‑X auf der Wis­sensplat­tform www.moebeldigital.de. Darüber hin­aus informieren wir unsere Mit­glieder über unsere Gremien in den Ver­bän­den der Möbe­lin­dus­trie (VDM/VHK).

Autor:
Dr. Olaf Plümer
Geschäftsführer
Dat­en Com­pe­tence Cen­ter (DCC e. V.)

Erschienen in: HK — Holz- und Kun­st­stof­fver­ar­beitung, Herb­st 2024

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