Eine Herausforderung für jedes produzierende Unternehmen — Der digitale Produktpass kommt

Der Pass wird neben Meta­dat­en und dem “Lebenslauf” des Pro­duk­te ins­beson­dere Infor­ma­tio­nen über die Kon­struk­tion und somit die (De-)Montage sowie über die ver­wen­de­ten Mate­ri­alien enthal­ten. Es ist eine Her­aus­forderung für jedes pro­duzierende Unternehmen und dürfte bis 2026 Real­ität werden.

Von Dr. Olaf Plümer

Der viel zitierte Green Deal der Europäis­chen Kom­mis­sion hat seine Auswirkun­gen nicht nur auf die Energiepoli­tik. Diese ist für die Bürg­er sich­er der anschaulich­ste Bere­ich, welch­er mit der Förderung von regen­er­a­tiv­en Energien und dem Gebäudeen­ergiege­setz sehr kon­tro­vers disku­tiert wird. Ein bish­er von der inter­essierten Öffentlichkeit wenig beachteter Bere­ich sind neue Regeln zur Umwelt­fre­undlichkeit und Energieef­fizienz im gesamten Leben­szyk­lus eines Pro­duk­ts und die daraus resul­tierende Verord­nung zur Cir­cu­lar Econ­o­my. Sie bildet den Rah­men für Pro­duk­tan­forderun­gen zur Förderung ökol­o­gis­ch­er Nach­haltigkeit bei der Her­stel­lung von Pro­duk­ten und der Kreislaufwirtschaft.

War das so genan­nte „Heizungs­ge­setz“ ein Parade­beispiel für schlechte Kom­mu­nika­tion, kön­nen die Anforderun­gen durch die Kreis­laufwirtschaft als Exem­ple für unter­lassene Kom­mu­nika­tion her­hal­ten. Dabei wer­den sie das Design bzw. die Kon­struk­tion auch von Möbeln nach­haltig verän­dern. Ziel ist die Wiederver­w­er­tung (Reuse), Nach­nutzung (Upcy­cling) oder zumin­d­est Ver­w­er­tung (Recy­cling). Nur was hat das Ganze mit Datenkom­mu­nika­tion und Dig­i­tal­isierung zu tun?

Um Pro­duk­te zu demon­tieren, kon­struk­tiv zu verän­dern oder stof­flich (im schlecht­esten Fall ther­misch) zu ver­w­erten, wer­den Dat­en über das Pro­dukt benötigt – dig­i­tale Dat­en. Daher ist von der EU ein dig­i­taler Pro­duk­t­pass (DPP) in Pla­nung. Der Pass wird neben Meta­dat­en und dem „Lebenslauf“ ins­beson­dere Infor­ma­tio­nen über die Kon­struk­tion und somit die (De‑) Mon­tage sowie über die ver­wen­de­ten Mate­ri­alien enthalten.

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Der kon­struk­tive Teil kann aus unternehmerisch­er Sicht heikel sein, da so Fir­menin­ter­na bekan­nt gegeben wer­den kön­nten. Der materielle Teil hängt ins­beson­dere bei Möbeln von der Kon­fig­u­ra­tion ab. Bestell ich einen Schrank mit ein­er Holz- oder mit ein­er Glas­front? Let­ztlich muss der Pro­duk­t­pass genau­so durch die Kon­fig­u­ra­tion erzeugt wer­den, wie der Preis. Er soll anschließend durch einen Daten­träger auf oder in dem Pro­dukt, sein­er Ver­pack­ung oder den Begleitun­ter­la­gen ange­bracht bzw. mit­gegeben werden.

Ein weit­eres Ziel ist der Ver­brauch­er­schutz. Der Endge­brauch­er soll nicht nur alle Infor­ma­tio­nen über sein gekauftes Pro­dukt bekom­men, son­dern vor ein­er Kaufentschei­dung alle rel­e­van­ten Details zur Ver­fü­gung haben. Spätestens jet­zt wird deut­lich, dass es nicht aus­re­icht, den DPP nach der Pro­duk­tion zu erzeu­gen und dem Möbel mitzugeben. Vielmehr muss ein tem­porär­er DPP während des Verkauf­sprozess­es durch die Pla­nung­spro­gramme bzw. Kon­fig­u­ra­toren zur Ver­fü­gung gestellt wer­den. Dem Kun­den am POS wer­den dann vor Kau­fab­schluss im Ange­bot neben ein­er Artikel­liste, einem Kauf­preis, ggf. 2D- oder 3D-Ansicht­en zwin­gend auch ein vor­läu­figer Pro­duk­t­pass ange­boten wer­den. Dies kön­nte entwed­er durch einen Link oder in Form eines QR-Codes auf dem gedruck­ten Ange­bot erfolgen.

Dies alles ist kein Hex­en­werk, auch wenn die Anbi­eter von Pla­nung­spro­gram­men stark investieren müssen. Die Her­aus­forderung liegt vielmehr darin, diese Dat­en im Vor­feld zusam­men­zu­tra­gen. Der Möbel­pro­duzent ist hier­bei auf die Unter­stützung sein­er Vor­liefer­an­ten angewiesen: Holzw­erk­stoffe, Lacke, Beschläge etc. – für alle Fer­ti­gungs­ma­te­ri­alien müssen Mate­ri­alzusam­menset­zun­gen mit­gegeben werden.
Nun ste­ht die Möbe­lin­dus­trie nicht alleine dar. Jedes Unternehmen das physisch existierende Pro­duk­te in der EU her­stellt oder in Verkehr bringt muss sich mit dem DPP auseinan­der­set­zen. In Deutsch­land koor­diniert das The­ma für unsere Branche der Ver­band der Deutschen Möbe­lin­dus­trie (VDM), auf europäis­ch­er Ebene die Euro­pean Fur­ni­ture Indus­tries Con­fed­er­a­tion (EFIC). Das Dat­en Com­pe­tence Cen­ter (DCC) unter­stützt unseren Dachver­band mit fach­lich­er Expertise.

Wir dür­fen allerd­ings die Möbel­branche nicht isoliert betra­cht­en. Im Juli hat sich der DIN/DKE Gemein­schaft­sauss­chuss gegrün­det, an dem der VDM plant teilzunehmen. Hier arbeit­en Experten aus allen Indus­triebere­ichen in Abstim­mung mit der europäis­chen Ebene (CEN) zusammen.
Bei der Vorstel­lung, welche Dat­en benötigt wer­den, wird so manchem Experten schwindelig: wie kann so etwas funk­tion­ieren? Was als Stan­dard benötigt wird, ist ein virtueller Daten­con­tain­er bzw. ein Datenökosys­tem. Die EU spricht hier­bei von der so genan­nten Ver­wal­tungss­chale (ASS: Asset Admin­is­tra­tion Shell). Diese Ver­wal­tungss­chale ist die Umset­zung des dig­i­tal­en Zwill­ings für die Indus­trie 4.0.

Sie bildet den gesamten Leben­szyk­lus von Pro­duk­ten ab, iden­ti­fiziert sie ein­deutig und ist im Netz adressier­bar. Sie erlaubt den kon­trol­lier­baren Zugriff auf alle Infor­ma­tio­nen des Pro­duk­ts über eine stan­dar­d­isierte und sichere Kom­mu­nika­tion­ss­chnittstelle und ver­sieht alle Infor­ma­tio­nen mit ein­er seman­tis­chen Klas­si­fizierung – vorzugsweise aus ECLASS. Let­z­tendlich ist damit die Ver­wal­tungss­chale unser benötigter Produktpass.
Darüber hin­aus plant die EU ein Pro­duk­t­pass­reg­is­ter – ver­gle­ich­bar mit der Europäis­chen Pro­duk­t­daten­bank für die Energie­ver­brauchskennze­ich­nung (EPREL). Hier­bei han­delt es sich nicht um eine Daten­bank, in der alle Pro­duk­t­pässe abgelegt wer­den. Vielmehr soll lediglich hin­ter­legt wer­den, für welch­es Pro­dukt ein DPP existiert. Als ein­deutige Ken­nung soll die Glob­al Trade Item Num­ber (GTIN – vor­mals europäis­che Artikel­num­mer, EAN) herhalten.

Das mag für ein­deutige Pro­duk­te ohne Var­i­anz mach­bar sein. Bei kon­fig­uri­erten Möbeln, wie ein­er Sit­z­land­schaft oder ein­er Ein­bauküche ist dies unmöglich. Let­z­tendlich sprechen wir dort von Einze­lan­fer­ti­gung (Los­größe 1). Muss ein Küchen­her­steller zukün­ftig nicht nur für jede verkaufte Küche einen DPP vorhal­ten, son­dern auch jede einzelne Kom­mis­sion in diesem Pro­duk­t­pass­reg­is­ter reg­istri­eren? Auch hier ste­hen wir nicht alleine: Autos wer­den eben­falls kon­fig­uri­ert. Kein verkaufter Wagen gle­icht in let­zter Aus­prä­gung einem zweiten.

Übri­gens kann sich die EU nach Inkraft­treten der Verord­nung zwei Jahre Zeit nehmen, das Reg­is­ter aufzubauen. Die Kom­mis­sion selb­st, sowie die Mark­tüberwachungs- und Zoll­be­hör­den sollen Zugang zu dem Reg­is­ter haben. Par­al­lel wird ein Web­por­tal für Infor­ma­tio­nen im dig­i­tal­en Pro­duk­t­pass einge­führt, sodass Inter­essen­träger (Endge­brauch­er? Wiederver­w­ert­er?) abhängig von ihren Zugriff­s­recht­en nach Infor­ma­tio­nen suchen kön­nen – ein nicht ganz unkri­tis­ch­er Prozess.

Daten­tech­nisch lässt sich ein DPP-Sys­tem lösen. Hier existieren bere­its sehr gute Ansätze im Bere­ich der Nor­mung. Zwei Beispiele: Um Mate­ri­alien struk­turi­ert zu übergeben und Vor­liefer­an­ten einzu­binden, wird derzeit die ISO/IEC 82474 erar­beit­et. Der noch nicht veröf­fentlichte Entwurf zeigt nicht nur die Mate­ri­al­struk­turierung, son­dern auch wie ein möglich­es Datenökosys­tem, sprich wie die Ver­wal­tungss­chale, ausse­hen kön­nte. Zweites Beispiel: Der bere­its veröf­fentlichte Entwurf der DIN EN IEC 63278–1 beschreibt Ver­wal­tungss­chalen für indus­trielle Anwen­dun­gen. Beruhi­gend ist, dass sich schon viele schlaue Köpfe Gedanken gemacht haben.

Let­z­tendlich muss auch die Daten­sicher­heit gewährleit­et sein, d. h. eine ein­heitliche Authen­tifizierung und Autorisierung, rol­len­basierte Zugriff­skon­trollen sowie sig­nierte und ver­schlüs­selte Daten­mod­elle. Was derzeit fehlt sind die konkreten Anforderun­gen der EU. Diese wer­den von Experten spätestens vor der näch­sten Wahl zum Europäis­chen Par­la­ments Mitte 2024 erwartet, da anson­sten das gesamte Geset­zge­bungsver­fahren neu starten müsste. Wir hof­fen in den näch­sten Monat­en Klarheit über die konkrete Aus­gestal­tung zu bekom­men und wer­den unsere Mit­glied­sun­ternehmen und die Branche so schnell wie möglich informieren.

Autor:
Dr. Olaf Plümer
Geschäftsführer
Dat­en Com­pe­tence Cen­ter (DCC e. V.)

Erschienen in: INSIDE Wohnen Ver­lags GmbH ; Nr. 1167; 13.09.2023

Quelle: