Künstliche Intelligenz knackt Nüsse für Erfahrungswissen
Die Software „Maddox“ kombiniert maschinelles Lernen mit Expertise aus der Belegschaft
Verena Fink: Internet der Dinge, Virtual Reality, Künstliche Intelligenz: Wir werden verfolgt von solchen Etiketten, die gefühlt heute auf jeder angepriesenen Software kleben. Umso mehr begeistern mich handfeste Anwendungen, wie zuletzt in der Verpackungstechnik bei Lorenz Nuss aus der Familie Lorenz Bahlsen Snack World.
„Maddox“ heißt das System und ich denke an Comics. Laut Wikipedia stammt der Name von einem Prinzen, der laut walisischer Folklore schon dreihundert Jahre vor Christoph Kolumbus zur Neuen Welt gesegelt sein soll. Das passt, „Maddox“ ist eine Software, die maschinelles Lernen aus Maschinendaten mit menschlicher Erfahrung der Belegschaft in der Produktion oder Fertigung kombiniert, um Produktionsstörungen zu reduzieren. „Maddox“ überwacht alle produzierenden Maschinen und wird aktiv, sobald eine Störung auftritt. Dann analysiert der Algorithmus, welcher Lösungsansatz den größten Erfolg haben wird. Das System schöpft dafür aus den Lösungsansätzen, die er bislang bei Mitarbeitern in der Störungsbehebung beobachtet hat. Dem Mitarbeiter in der Schicht empfiehlt es dann die passende Wissenskarte mit Angabe zur Erfolgswahrscheinlichkeit in Prozent, gefüllt mit Anleitungen wie Texten, Bildern und Videos. Der Mitarbeiter selbst entscheidet, ob er diese Karte verwendet und gibt „Maddox“ im Anschluss Feedback, wie gut die Anleitung geholfen hat, wie er sie ändern oder ergänzen möchte.
„Maddox“ lernt aus jeder Reaktion und aggregiert das Wissen anonymisiert, um es auch an die Maschinenhersteller zurückspielen zu können. Spannend finde ich den Ansatz, da er – scheinbar paradox – Künstliche Intelligenz (KI) einsetzt, um das Wissen der Belegschaft besser nutzbar zu machen. „Maddox“ ist ein selbstlernendes Bedienerassistenzsystem und setzt auf Menschen, die bereit sind, ihr Wissen zu teilen.
“Auch bei KI-Projekten gilt: Mitarbeiter:innen wollen verstehen, warum es sich lohnt, exklusives Wissen mit einem System zu teilen.”
Sofort habe ich 1.000 Fragen im Kopf: Wie viele Mitarbeiter haben die Motivation, ihre Insights mit der Maschine zu teilen, wenn sie die Störung behoben haben? Andre Schult, einer der Väter von „Maddox“ und Mitgründer der Peerox GmbH (siehe Infokasten) klärt mich auf. Die Ein-Prozent-Regel gilt auch hier, wie im Social Internet, es genügen ein Prozent aktive und neun Prozent reaktive Nutzer, während 90 der Nutzenden nur konsumieren, ohne selbst etwas beizutragen. Überrascht bin ich von der Sogwirkung der passiven 90 Prozent. Allein durch ihre Aufmerksamkeit für die Wissenskarten stimulieren sie indirekt die zehn Prozent aktiver Schreiber, ihren Kolleginnen und Kollegen weiterzuhelfen, denn wer mithilft, wird auf den Karten sichtbar. Jeder kann solche Ergänzungen auf Karten kommentierten und liken, daraus entsteht ein automatisches Scoring. Bei aller Freude an Status und Wettbewerb, die Basis ist auch hier Vertrauen. Vertrauen in das System, Vertrauen in die Führung, Vertrauen in die Wertschätzung der Menschen. Henry Kulnick, Managing-Director der Lorenz Nuss GmbH, bestätigt mir im Gespräch, dass der Kulturwandel Teil des Erfolgs ist, da die Belegschaft heute keine Angst mehr hat, sich selbst überflüssig zu machen, wenn sie exklusives Wissen teilt. Die KI „Maddox“ stärkt die Belegschaft und greift selbst nicht ein, um die Störung zu beheben, sondern macht nur Vorschläge und lässt Mitarbeiter:innen selbst entscheiden. Ihr Erfahrungswissen steht im Mittelpunkt und wird mit Hilfe der KI sichtbar. Dokumentation wird einfach, die KI reduziert lästige Pflicht auf ein Mindestmaß.
Der Punkt Erfahrungswissen macht mich nachdenklich: In vielen Unternehmen geht heute Potenzial verloren, wenn alte Hasen oder junge Wilde keine Lust mehr haben, ihr Know-how zu teilen, da es scheinbar keinen mehr interessiert. Wir teilen dann, wenn wir dadurch keine Nachteile fürchten, sondern das Gefühl haben, unsere Gegenüber hätten es verdient oder wenn wir an einem Strang ziehen. Die Frage nach dem Nutzen neuer KI-Tools ist für Betroffene relevant und sollte mehr Stoff beinhalten als nur den Verweis auf Effizienzgewinne, mehr Umsatz oder geringere Kosten. Mitarbeiter:innen wollen verstehen, was es ihnen persönlich bringt, wie genau sich ihre Arbeit verändert, wie Sicherheit und Transparenz in der Anwendung gewährleistet sind und warum es sich lohnt, gemeinsam die Veränderung voranzutreiben.
Wer Wissen teilt, sollte wissen, warum:
- Was wollen wir mit dem KI-Projekt gemeinsam erreichen?
- Wie bringt uns das unserem gemeinsamen Ziel näher?
- Wie erleichtert das meine Arbeit?
- Warum steigert es meine Anerkennung oder Sichtbarkeit?
- Wer profitiert langfristig davon?
Wenn KI im Nuss-Imperium solch harte Nüsse knacken kann, warum nicht auch in anderen Industrien?
Die Peerox GmbH ist ein Spin-off aus dem Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (IVV) — www.peerox.de
Autorin:
Verena Fink
Geschäftsführerin Woodpecker Finch
Veröffentlicht in: möbelfertigung 03/2021
Quelle und Medienpartner:
Verena Fink: Verena Fink ist Geschäftsführerin der Unternehmensberatung Woodpecker Finch und steht für Digitale Transformation in Marketing, Vertrieb und Sales. Sie begleitet den technologischen Wandel in Studien‑, Innovations- und Marktentwicklungsprojekten. Durch zahlreiche Publikationen und Vorträge gehört sie zu den Vordenkerinnen der digitalen Transformation und der Vernetzung in Service-Ökonomie und Social Commerce. Verena Fink ist Autorin des Praxisleitfadens „Künstliche Intelligenz – KI-Projekte einfach machen” sowie zahlreicher
Veröffentlichungen zu den Zukunftsfragen der digitalen Wirtschaft.
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