Virtuelles Möbel-Potenzial
Der Mensch als Teil des Internets: Im Metaverse soll die reale Welt mit der virtuellen verschmelzen. Diese Idee ist nicht neu, erhält aber durch die heutigen Technologien enormen Auftrieb. Doch was ist das Web 3.0 – kurzfristiger Hype oder ernstzunehmende Zukunftsvision? Und bietet es auch Potenzial für die Möbelbranche? Eine Analyse des Moebel Digit@l Medienpartners „möbel kultur“.
Für Fußballprofi Kevin-Prince Boateng und Model Valentina Fradegrade läuteten im Sommer des vergangenen Jahres die Hochzeitsglocken – und das gleich doppelt. Denn die Trauung fand in der Toskana und zeitgleich auf der Metaverse-Plattform „Over“ statt. Dort standen die beiden Avatare des Brautpaares in einer virtuellen Mondlandschaft mit Blick auf die Erde. Gäste gab es auch: Für 50 Dollar konnte man dabei sein. Angeblich wurden 82 Tickets verkauft. Eine virtuelle Spielerei mit gelungenem Aufmerksamkeits-Push. Doch ist das Web 3.0 mehr als das? Und was ist es eigentlich genau?
Laut einer aktuellen Umfrage, die Bonial, Marktführer im Bereich der digitalen Angebotskommunikation, exklusiv für die „möbel kultur“ durchgeführt hat, wissen nur neun Prozent der Befragten genau, worum es sich beim Metaverse handelt, 14 Prozent haben eine teilweise Vorstellung und 29 Prozent haben den Begriff schon gehört, wissen aber nicht, worum es dabei genau geht. Demgegenüber stehen 48 Prozent, die damit noch nichts anfangen können.
Worum genau geht es?
Im Kern geht es beim Metaverse um eine dreidimensionale Erlebniswelt und damit um die nächste Evolutionsstufe des World Wide Web. Während es sich beim Internet 1.0 um eine Ansammlung statischer Websites ohne interaktive Inhalte handelte, beschreibt das Web 2.0 die Social-Media- und Mobile-Revolution. Jeder kann nun von überall Inhalte und Medien unkompliziert zur Verfügung stellen. Doch nach wie vor bleibt der User ein „Außenstehender“. Beim Web 3.0 sollen die Nutzer:innen Teil des Internets werden, darin interagieren – also letztlich „leben“ können.
Eine Vorstellung, die laut der Bonial-Umfrage 40 Prozent als positiv einschätzen. Nur 17 Prozent bewerten eine solche Entwicklung als negativ. Wichtig dabei zu wissen: Das Metaverse als solches, in dem alles und alle vernetzt sind, gibt es noch gar nicht. Stattdessen ist es aktuell ein Sammelbegriff für digitale, dreidimensionale Erlebniswelten, in die Menschen – beispielsweise über ihren Avatar – eintauchen, um zu spielen, sich mit anderen zu treffen, unbekannte Orte oder Events „live“ zu erleben etc. Zu den Vorreitern gehören Online-Spiele. Eines der bekanntesten Beispiele ist „Second Life“. Das Computer-Game ging 2003 online, blieb aber ein kurzer Hype.
„Bei ‚Second Life‘ handelte es sich auch um eine Metaverse-Idee, aber die Zeit und die Technologie waren einfach noch nicht reif dafür“, so Daniel Schuster, Gründer von Danthree Studio, das hochwertige CGI (Computer Generated Imagery) für die Möbel‑, Home- und Living-Branche erstellt (Siehe Expertenbeitrag: Fotorealistische CGI Renderings — Trend oder Must-have in der Möbelbranche?). Aber was hat sich jetzt geändert? Ganz klar: die technischen Möglichkeiten. Hochleistungsfähige Rechner bieten den Metaverse-Anwendungen völlig neue Potenziale, vor allem in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz sowie den Virtual- und Augmented-Reality-Technologien (VR/AR). Ein zentrales Element ist die VR-Brille, mit der es möglich wird, in digitale Welten einzutauchen.
Einen Push erhielt das Thema zudem einerseits durch die Corona-Pandemie, die die digitale Entwicklung beschleunigt hat. Und andererseits durch Mark Zuckerberg, der seinen Facebook-Konzern Ende 2021 in Meta umtaufte. Der Grund: „Wir glauben, dass das Metaverse der Nachfolger des mobilen Internets sein wird.“ Aktuell steckt das Thema zwar eher noch in den Kinderschuhen, aber es könnte „the next big thing“ werden.
Daniel Schuster erstellt mit seiner Agentur Danthree Studio hochwertige CGI für die Möbelbranche.
„Man stelle sich vor, Apple würde in einem Jahr eine VR-Brille auf den Markt bringen. Dann wäre das Thema ganz schnell allgegenwärtig“, so Daniel Schuster. In der EHI-Studie „Metaverse im Handel“ (Siehe News: Metaverse im Handel) war die Hälfte der Befragten der Meinung, dass das Metaverse viele Bereiche des täglichen Lebens für immer verändern wird, und 46 Prozent schätzen die Bedeutung des Web 3.0 für ihr Handelsunternehmen in zehn Jahren als groß ein.
Bei Benetton verschmolzen realer und virtueller Shop.
Und so beschäftigen sich bereits viele Marken und Unternehmen mit dem Metaverse. Laut einer aktuellen Analyse von McKinsey & Company hat es das Potenzial, bis zum Jahr 2030 einen Wert von bis zu fünf Billionen US-Dollar (ca. 4,69 Billionen Euro) zu erreichen. 2024 sollen es immerhin schon 800 Mrd. US-Dollar (ca. 751 Mrd. Euro) sein. Pionierrolle nimmt die Gaming-Branche ein. In zahlreichen Online-Spielen wie „Decentraland“ oder „Animal Crossing“ können die User:innen heute schon ihre Avatare virtuell ausstatten – mit Kleidung, Accessoires, Autos etc. Das Interesse der Firmen wächst, mit diesen Plattformen zusammenzuarbeiten, um ihre Produkte und Dienstleistungen auch in diesen Welten zu präsentieren und zu verkaufen. Zum einen werden bekannte Produkte dafür als digitale Zwillinge entworfen. Zum anderen entstehen neue, rein virtuelle Produkte. Die Käufer:innen erwerben NFTs (Non-fungible Tokens). Dabei handelt es sich um eine digitale Wertmarke, eine Art Besitzurkunde, die via Blockchain (Datenbank) gesichert ist.
Ganz vorn dabei sind die Modelabels. Ralph Lauren beispielsweise eröffnete vor rund einem Jahr Geschäfte auf der Spieleplattform „Roblox“. Die rund 47 Mio. aktiven Nutzer:innen können dort virtuelle Pufferjacken, karierte Mützen etc. für ihre Avatare kaufen. Nike hat kürzlich die Marke RTFKT übernommen, die sich auf sammelbare, virtuelle Turnschuhe spezialisiert hat. Adidas wiederum ist bereits mit der ersten NFT-Kollektion „Virtual Gear“ an den Start gegangen. Und Benetton ließ kürzlich gekonnt die reale und die virtuelle Welt verschmelzen: Das stationäre Geschäft in Mailand erstrahlte zur Fashion Week in knalligem Pink – ebenso wie der neue Metaverse-Store. Bemerkenswert ist dazu die Verbindung von Realität und Virtualität: Im Gegensatz zu den meisten anderen Metaverse-Stores konnten die Kund:innen keine virtuellen Kleidungsstücke für ihre Avatare kaufen, sondern mit Hilfe von Spielen Punkte sammeln, die wiederum nur in den stationären Läden einzulösen waren.
Ebenfalls das Web 3.0 für sich entdeckt haben H&M und Kaufland. Beide sind mit eigenen Inseln in der Spielewelt „Animal Crossing“ aktiv. Experimentierfreudig präsentiert sich auch die chinesische Alibaba-Gruppe. Anlässlich ihres „Singles‘ Day“, ein Shopping-Event vergleichbar mit dem „Black Friday“, fanden am 11. November 2022 virtuelle Verkaufsveranstaltungen mit AR-Lösungen statt, die den Verbraucher:innen die Zukunft des Handels im Metaverse näherbringen sollten.
Weit vorn ist auch BMW. Der Konzern nutzt die Möglichkeiten aktuell in zweifacher Hinsicht: Er erschafft zurzeit weltweit für jedes Fahrzeugwerk einen digitalen Zwilling, mit dem sich die realen Gegebenheiten am Computer nachvollziehen lassen. Gleichzeitig hat er mit Joytopia zur IAA 2021 ein eigenes Metaversum für interaktive Markenkommunikation gelauncht.
BMWs Metaversum „Joytopia“.
Und wie sehen die Chancen für die Möbelbranche aus?
„Natürlich muss niemand sofort im Metaverse aktiv werden. Aber es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Sonst verpasst man nachher den Anschluss und potenzielle Zielgruppen“, betont Daniel Schuster. Denn Potenzial ist durchaus gegeben. Die KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft hat untersucht, wie hoch die Attraktivität bestimmter Produkte im Metaverse ist. Demnach gehören Möbel und Deko-Artikel zu den drei Top-Kategorien für den Kauf physischer Produkte (59 %) und für den Kauf digitaler Produkte (28%). Und es gibt ja durchaus Unternehmen, die erste Schritte in diese Richtung bereits gegangen sind. Zu den Vorreitern gehört Störmer/Inti (siehe Möbelkultur Ausgabe 1/23 S. 84). Zudem lassen viele Hersteller inzwischen digitale Zwillinge ihrer Produkte erstellen, um sie in virtuellen Räumen zu präsentieren. Verschiedene Küchenhändler bieten ihren Kund:innen den Service, die Traumküche per VR-Brille zu entdecken. Und dank AR-Anwendungen – z.B. von Ikea, Jung oder Cynapsis Interactive – lassen sich Produkte digital im heimischen Wohnzimmer platzieren (siehe Möbelkultur Ausgabe 1/23 S. 24). Bei der Bonial-Umfrage gaben 47 Prozent der Teilnehmer:innen an, dass ihnen solche modernen Technologien die Kaufentscheidung erleichtern werden.
Mögliche weitere Anwendungsszenarien des Metaverse sind laut EHI-Studie die Einkaufsassistenz, dreidimensionale Produktvorführungen sowie Werbung im virtuellen Raum. „Eine völlig neue Interaktion ist möglich“, unterstreicht Daniel Schuster. „Händler könnten den Kund:innen zum Beispiel einen virtuellen Styleberater an die Hand geben, der mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz berechnet, welche Möbel und Accessoires in die jeweilige Wohnung passen, diese Produkte dann vorschlägt und direkt die Bestellnummern weitergibt.“
Der digitale Weg vereinfacht zudem die Produktentwicklung, da die Designer:innen zunächst ihrer Kreativität freien Lauf lassen könnten und erst im zweiten Schritt auf die Realisierbarkeit achten müssten. So geschehen beim „Hortensia Chair“ von Andrés Reisinger. Er postete das Rendering bei Instagram, das viral ging. Moooi wurde darauf aufmerksam und setzte den Sessel real um. Und wenn das Metaverse erst einmal wirklich da ist? Es gibt Prognosen, dass bis 2026 etwa 25 Prozent der Menschheit mindestens eine Stunde täglich das Metaverse nutzen wird. Und wie Tim Frank, Gründer VRtual X, gegenüber der „imm cologne“ betont: „Je länger ich mich darin aufhalte, desto wohnlicher möchte ich es gestalten. Das heißt, das Metaverse muss eingerichtet werden.“
Um dabei zu den Gewinnern zu gehören, müssen die Unternehmen auch Ängste abbauen und überzeugend den Datenschutz sicherstellen – gerade hierzulande. Laut der Bonial-Umfrage sind nur 16 Prozent bereit, persönliche Daten von sich preiszugeben. Und die Vorstellung eines eigenen digitalen Zwillings, mit dem man beispielsweise die exakt für sich passende Kleidung kaufen könnte, finden 29 Prozent beunruhigend und 21 Prozent sogar verrückt. „Das Thema Metaverse ist spannend, aber auch noch ziemlich abstrakt. Für den Möbelsektor birgt das Zusammenwirken von virtueller und physischer Realität durchaus einige Vorteile. Allerdings steht die Mehrheit der Befragten der digitalen Wirklichkeit noch recht skeptisch gegenüber und man darf nicht vergessen, dass das haptische Erlebnis oft den ausschlaggebenden Impuls für den Kauf eines Produktes gibt – dazu ist das Metaverse für die Verbraucher:innen im wahrsten Sinne des Wortes noch nicht greifbar genug“, fasst Sebastian Kerkhoff, Senior Vice President „Home & Living“ bei Bonial, die aktuelle Situation zusammen. Nichtsdestotrotz sollten Visionäre ein wachsames Auge auf die Entwicklungen haben. Denn, so Daniel Schuster: „Der digitale Fortschritt ist nicht aufzuhalten.“ SILJA BERNARD